CASSIDY
Benno Heisel
Das Erste Statement
In einem Dorf in Mähren, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein junger kunstsinniger Mensch, einer von jenen, die ein hageres Pferd, einen Hund und eine kleine Bibliothek ledergebundener Werksausgaben besitzen. Ein Regalmeter Cervantes – das verzehrte volle Dreiviertel seines Einkommens. Aber das ist eigentlich nicht von Bedeutung für die ganze Geschichte und soll nur zeigen, wie wichtig ihm das alles war: Kunst, Literatur, das geistige Leben. Ihm kam der Wunsch, selber die Feder zu ergreifen, um einen Roman zu schreiben; und ohne Zweifel hätte er es getan, ja er wäre damit zustande gekommen, wenn andere größere Dinge es ihm nicht verwehrt hätten.
So hätte Emil Kazdy seine Geschichte erzählen wollen. Aber das kann er nicht. Weil seine Welt zerstört wurde, seine Welt des Geistes und der Kunst. Und heute erzähle ich diese Geschichte: um Ihnen zu sagen, dass Sie einen Feind haben. Die Geschichte eines Mannes, der verraten wurde und schließlich, sagen wir, verschwand. Aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen: Recherchen, Akten, Fotografien, Statements. So wie das hier, verfasst am 11. Mai 1966. Hier stehen Sätze wie:
Mein Name ist Emil Kazdy und ich bin ab heute Nacht entschlossen zum
Einsatz tödlicher Gewalt.
Wofür leben?
Wofür töten?
Mein Hass ist mir fremd.
Mein Feind braucht ein Urteil.
Emil Kazdy, ein friedlicher Kultur- und Literaturkritiker, ist quasi über Nacht „entschlossen zum Einsatz tödlicher Gewalt“ und hat einen „Feind“? Der wird auch im Statement genannt:
Mit diesem Text beginne ich meine Beweisführung und meine Recherche im Fall Melvin Lasky.
Melvin Jonah Lasky, das war sein Vorbild, sein Idol – bis er ihn verriet. Dieser Verrat, der zerschnitt den letzten Faden, der Kazdy mit seiner Jugend in Mähren verband. Mit seiner Hoffnung auf ein Leben in der Kunst. Mit der Kunst. Für die Kunst.
Emil Kazdy fand sich nach dem Krieg, im August 1945 in Deutschland wieder – mit nicht mehr als einer Truhe von Erinnerungsstücken. Er studierte, wurde Literaturkritiker. Wofür leben. Er fühlte sich fremd und verloren in diesem Deutschland, das kulturell am Boden lag, wo die gerade wieder erwachende Kultur zerrieben wurde zwischen den ideologischen Fronten. Genauso orientierungslos wie er. Wofür lebst du? Für Ablenkung? Wofür leben wir miteinander? Für eine Ideologie? Alle Kunst und alles Denken schien einer der beiden Seiten im kalten Krieg zu dienen, oder der gedankenlosen Unterhaltung. Eine süßliche Soße auf die Trümmer.
Aber … Aber dann gab es da dieses Magazin. Das blitzt zwischen all den Trümmern hindurch. Das strahlt, das gibt Hoffnung. Der Monat. Hier wurde offen die Ideologie beider Weltmächte kritisiert, hier wurde vehement gegen Imperialismus und Rassismus angeschrieben, gegen Zensur und Technokratie. Hier wurde die progressive Kunst, die neue Literatur gefeiert. Und an der Spitze dieses Magazins, da stand: Melvin Jonah Lasky. Ein junger Amerikaner, kaum älter als Kazdy selbst. Kazdy verfolgte seinen Lebensweg, lauschte seinen Vorträgen, verschlang seine Artikel. Er trug sogar dieselben Anzüge. Kaufte sich eine Pfeife. Imitierte den Akzent. Melvin Lasky. Wenn man ihn hört, klingt er immer, als hätte er gerade einen Witz gemacht..
Wir halten es für eine axiomatische Wahrheit, daß die Freiheit des Geistes eines der unveräußerlichen Menschenrechte ist.
Das ist aus dem Manifest vom Kongress für Kulturelle Freiheit. Hat auch Melvin Lasky gegründet. Abgedruckt im Monat Nummer 22.
Da ist sie auf einmal: eine Gemeinschaft, zu der Kazdy gehören möchte. Wo er sich nicht verstecken muss, in seinem Hunger nach geistigem Leben. Dieser Kongress für kulturelle Freiheit. Allein der Klang dieser Worte: Kulturelle Freiheit! Das vergangene Mähren. Nicht profaner, nicht dümmer Leben zu müssen, als man war.
Kazdy abonnierte als einer der ersten den “Monat”. Und träumte davon, eines Tages Lasky zu begegnen. Auf Augenhöhe. Als Teil seines Zirkels. Als Lasky zum Encounter nach London wechselte, las Kazdy den natürlich auch. Lasky, das war wie ein älterer Bruder, mit mehr Witz, mehr Esprit, und viel, viel Mut. Aber dann knallte es. Mit einem Schlag war alles vorbei. Und Lasky, sein Idol, wurde sein Feind.
Mein Name ist Emil Kazdy und ich bin ab heute Nacht entschlossen zum Einsatz tödlicher Gewalt. Diese Aussage denken und sogar niederschreiben zu können, ist ein ungeheuerlicher Schock für mich. Auch, weil es mir so schwer fällt, Weiteres auf die gleiche Seite zu setzen. Nach diesem Satz mehr als nur einen Punkt zu sehen, erscheint mir lächerlich. Es ist, als ob der Entschluss zu töten alle meine bisherigen Wünsche nichtig gemacht hätte. Den, sich zu erklären. Den, verstanden zu werden. Den, zu überdauern. Ich habe in den Jahren meiner Tätigkeit als Kritiker der Kunst und dem Publikum stets die einfache Frage abverlangt: Wofür leben?
Wofür lebst du? Wofür leben wir miteinander? Ich lebte dafür, diese Fragen zu stellen. Als Streiter gegen Ignoranz und Barbarei sah ich mich, umgeben auf Seiten der Kunst und des Publikums von der ewigen Schlaffheit der Narzissten, dem ätzenden Moder des Vergessens, der grellen Peinlichkeit derer, die sich ihrer selbst nur versichern können, wenn sie von der Fensterbank ihres Bauchnabels herab Passanten ankeifen.
Da ist sie wieder, die alte Schreibe. Der feuilletonistische Furor. Der wütende Emil.
In Anbetracht der neuen Fragen „Wofür töten?“ und „Wofür sterben?“verschieben sich die Wertigkeiten, erscheint mir mein alter Kampf so klein, dass ich weiß, dass ich ihn wohl verloren haben muss. In den heutigen Kriegen ist eine strahlende Rüstung nichts weiter als ein Todesurteil für den, der sie anlegt. Bei der Niederschrift dieser Zeilen weiß ich nicht mehr zu sagen, ob ich weiterhin für die menschliche Würde kämpfe, oder nur gegen ihre Feinde. Ich wollte die Kunst von der Dummheit und Beschränktheit der Wirklichkeit befreien, weil ich mich selbst davon frei machen wollte.
Emil. Der Gutgläubige. Ein Kritiker, verloren in der Kunst.
Mein Hass ist mir fremd.
Ich verfasse diesen Text, indem ich mir den Wunsch aufzwinge, wirksam zu werden, eine dauerhafte Veränderung der Verhältnisse zu erreichen. Ich zwinge mich zu diesem Wunsch, weil ich im Pragmatismus den Rest meiner selbst vermute und ihn erhalten möchte. Mit diesem Text beginne ich meine Beweisführung und meine Recherche im Fall Melvin Lasky. Am Ende meiner Arbeit muss eine Anklageschrift stehen, die meinem Hass gerecht wird
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Textauszüge aus dem Theatertext CASSIDY
Premiere im Rahmen von "Spielart Festival“- 5.11.2016