SUPERKONFIGURATION

Jan Geiger

Wir schwimmen auf einem kurzen Lichtstrahl Richtung Erde. Es geht sehr schnell, denn es sind nur ein paar Minuten von der Sonne hinüber zur Erde. Der Zoom ist so schnell und brachial, dass es fast verwundert, dass die Lichtstrahlen nicht durch die Haut und die Materie brechen und alles offen legen, was verborgen ist.

Nur an einem Punkt unserer Geschichte werden unsere Heldinnen zugleich von Sonne beschienen. Nichtsdestotrotz ist es ihre gemeinsame Geschichte.

Wir blicken zurück hinter einen großen Abgrund, aus nahezu unendlicher Distanz auf einzelne Geschichten. Nicht alles wird hier Sinn ergeben, nicht jede Regung verständlich sein. Es muss ein Rest bleiben, der aus zu großer Distanz zu wunderlich, zu seltsam und absurd erscheint. Es ist aber alles wahr.

Miko und Theresa stehen an einer Straße, die am Strand entlang führt. Miko trägt Handwerkerkleidung, Theresa sieht aus, als könne sie jederzeit in einer Strandbar sitzen, führt aber mit Miko ein Interview, der diese Art von Selbstauskunft unangenehm ist, was sie mit besonders selbstsicherem Auftreten zu überspielen versucht. Der australische Strandhimmel ist extrem weit gespannt, fasst reißt es ihn entzwei. Sie beenden gerade das Interview.

 

MIKO
Ja, das dritte Mal.

 

THERESA
Dann wird es häufiger?

 

MIKO
Naja, dreimal dieses Jahr ist oft, aber das kann ja Zufall sein.

 

THERESA
Letzte Frage: Wie fühlt sich das an?

 

MIKO
Ganz okay, denke ich. Muss ja.

 

THERESA
Danke für das Interview!

 

Die Kamera geht aus.

 

THERESA
Sorry, die letzte Frage muss immer. Das muss.

 

MIKO
Ja, das ist schon okay. Die Leute flippen ja völlig aus. Und du musst Emotionen liefern ist klar. Noch O-Töne von den Anwohnern sammeln?

 

THERESA
Ich fürchte ja. Die werden eh nur sagen, wie schrecklich und inhuman das alles ist. Unmenschlich, grausam.

 

MIKO
Es haben mir auch schon welche gesagt, dass sie‘s gut finden. Aber machen will es halt keiner. Die bewegen sich auch viel. Ist kein Spaß.

 

THERESA
Isst du Wal?

 

MIKO
Wer isst denn Wal?

 

THERESA
Na, Japaner und so.

 

MIKO
Okay, ja stimmt. Also, nee. Aber was essen muss ich. Ich sprenge eigentlich nur. Ist auch nur Zufall. Ich war eben vor 4 Jahren die erste, die das gemacht hat, weil ich eben da in der Nähe des Strandes wohne. Und dann haben sie mich gefragt. Jetzt bin ich die Walsprengerin geworden.

 

THERESA
Was kriegt man dafür?

 

MIKO
Ist freiwillig. Nur den Sprengstoff zahlen sie mir.

 

THERESA
Wie wird man denn Sprengmeisterin?

 

MIKO
Ausbildung.

 

THERESA
Spannend. Vielleicht können wir ja Mal ein Portrait über dich machen?

 

MIKO
„Die Frau, die die Wale sprengt“? Lieber nicht. Sympathieträger sehen anders aus. Du, ich muss jetzt mal den Wal sprengen. Der wartet ja sozusagen. Wollen wir nachher was essen?

 

THERESA
Essen?

 

MIKO
Ja, hinten am Strand ist ein gutes Steakhouse.

 

THERESA
Ja, ich dreh dann noch die O-Töne weg, wenn der Wal explodiert ist, dann komme ich dahin.

 

MIKO
Cool, bis nachher. Ich warte da.

 

Wir zoomen aus dem Geschehen heraus und sehen die Weite des Sandstrandes auf dem - fast schon klein - der Wal liegt. Miko geht dorthin, die THERESA und der Kameramann sind auch auf dem Weg dorthin. Der Himmel ist unermesslich groß und weit, ebenso wie das Meer, dessen Wellen ein steter Wind mit weißen Spitzen krönt. Eine Absperrung wurde um den Wal errichtet, Polizisten sind vor Ort, aber aus der Distanz ist alles sehr ruhig und friedlich. Der Wal bewegt sich in keiner Weise. Miko erreicht den Wal und klettert auf ihm herum. Miko entfernt sich von dem Wal, das Kamerateam filmt weiter, aber wir hören nichts davon, alles ist sehr weit und wirkt wie abgefilmt, wir hören nur das befriedigende Rauschen des Windes. Ein kurzes Krachen zeigt, dass die Sprengung stattgefunden hat. Nur ganz leicht sieht man eine Bewegung, jedoch keine Fontäne. Wir wissen, dass der Wal nun zerlegt und abtransportiert wird. Obwohl wir sehen, dass nichts geschehen ist, haben wir genau darauf gewartet. Der Wind bläst weiter gemächlich, es ist unheimlich friedlich und schön.

Hannah macht eine Insta-Story in ihrem dunklen Schlafzimmer. Ihr Gesicht wird nur vom blauen Licht des Bildschirms erleuchtet. Sie hat sich nicht zurecht gemacht, trägt nur ein Top und eine Schlafanzughose und doch ist sie sich extrem der Tatsache bewusst, dass sie nicht geschminkt und gekämmt ist.

 

HANNAH
Ich muss eines gleich zu Beginn klarstellen: Ich hatte eine Abtreibung und deswegen hat er mich verlassen. Es ist in etwa so, als dürfe man etwas und gleichzeitig darf man es nicht. Wer mir so die Pistole auf die Brust setzt, wie kann ich da ja sagen? Oder Nein? Wenn er mir keine Wahl lässt, dann bin ich doch völlig gefangen! Wolltest er denn eine Gefangene, auch wenn er dann seinen Willen bekommen hat? Ist das der Preis, den du zahlen wolltest: Meine Freiheit, meine Würde und meinen Stolz einfach opfern, um deinen Willen zu kriegen? Anscheinend ja. Dass du nicht damit zu recht kommst, ist in Ordnung. Ich habe fast ein bisschen Mitleid mit dir. Aber eben nur fast. Ich will, dass du für mich da bist, dass du mich hältst und sagst, dass es okay sein wird, dass du ein bisschen flunkerst und sagst: Es war keine große Sache. War es auch nicht! Es gibt nicht diesen Moment, wo es plötzlich groß wird und mir die Gewalt, die Ungeheuerlichkeit, bewusst wird und du mich retten musst. Denn es ist nicht ungeheuer, es ist nicht groß. Es ist eine Entscheidung und nichts weiter. Und etwas, mit dem ich leben muss. Es war meine Entscheidung und ich habe kein bisschen Mitleid mit ihm, hört ihr? Denn es war meine Entscheidung und meine allein!

Ich werde das nachher sicher alles wieder löschen. Hashtag #regrets.

 

Lisa steht in einem dunklen Hörsaal einer westdeutschen Uni, die Dinge sind wahrscheinlich alle aus Beton mit grün, braun oder orange kombiniert, aber mit Sicherheit nur eine dieser Farben. Sie hält einen Powerpoint-Vortrag. Eine PowerPoint-Präsentation mit Welwitschias segelt durch den Raum. Die Übergänge sind alle mit Effekten versehen. Welwitschias wirbeln und schweben hinein, sie trudeln, verblassen und überlagern sich.

 

LISA
Was könnte sie wollen, außer in Ruhe gelassen zu werden? Ein bisschen Wasser und Licht, sonst braucht sie nichts, sie ist zurückhaltend, gnadenlos zurückhaltend, wartend, immer harrend, sie streckt sich nicht, sie wuchert nicht, sehr zurückgezogen, zurückgezogen in sich, ganz bei sich selbst.

Hängt sich nicht zu Fenster heraus mit Ästen und Zweifeln und anderen Extravaganzen, still in der Wüste, nicht rascheln, warten, sich treiben lassen.

Nur zwei Blätter. Nie mehr und nie weniger. Ein Ding das Zeus nicht auseinander riss. Das sieht man ihr aber nicht an, denn die beiden Blätter werden angefressen und abgerissen, zerrissen, aufgetrennt, sodass sie eher ausseht wie ein überquellender Korb nasser Wäsche, den man vergessen hat aufzuhängen. Die Teile, die herausstehen, sind schon getrocknet, während im Wäschekorb die Feuchtigkeit steht und der Schimmel wächst. Natürlich fängt die Wäsche im Gegensatz zur Welwitschia an zu müffeln.

Sie ist also ein formloser Haufen brauner und grüner Fetzen, als Pflanze weder spektakulär noch schön anzusehen. Sie ist nicht so hässlich, dass sie einen in den Bann zieh, sonst wäre sie wahrscheinlich schon ausgestorben. Sie ist auf völlig uninteressante Weise unansehnlich, ein formloser Haufen. Ihre Stärke liegt in der völligen Indifferenz, die Betrachter ihr entgegenbringen: Sie können einfach nichts mit ihr anfangen, man lässt sie in Ruhe. Sie braucht nicht viel: Licht, Sonne und Küstennähe: Zarte Feuchtigkeit am Morgen.

 

Ein letzter dramatischer Powerpoint-Übergang, dann herrscht Stille, verzagter Applaus nach kurzer Zeit. Fremdscham-Schweigen breitet sich aus.