MÜNCHNER SCHICHTEN

Folge 1: Das Casting

Barbara te Kock

Martin nimmt wutentbrannt das Dirndl und versucht es Anastasia brutal über den Kopf zu ziehen. Ein Kampf beginnt, der immer brutaler wird. Mira dreht sich weg. Schaut lächelnd ins Publikum. Im Hintergrund geht es um Dirndl oder Leben.

MIRA Wir sehen gerade den klassischen “all is lost Moment” einer Serienfolge. Das ist ungefähr nach drei Viertel der Zeit der Fall. Also jetzt. Meistens hat dann die Hauptfigur ihr Ziel fast erreicht - in diesem Fall würde das bedeuten, dass Anastasia hier jetzt die Hauptrolle spielt, sonst würde sie jetzt zu diesem Zeitpunkt nicht das tun, was sie gerade tut, nämlich unter Einsatz ihres Lebens gegen den Antagonisten kämpfen, der ihr gerade alle Hoffnung nimmt, ihr Ziel jemals zu erreichen. Um nochmal kurz ihr Handlungsziel zu erläutern, ihr Ziel ist es, eine Hauptrolle in dieser Serie zu ergattern... Die sie ja offensichtlich bereits hat, was ihr aber offensichtlich gerade nicht bewußt ist, sonst hätte sie jetzt nicht diesen All is lost Moment. Ich bin dann ja wohl eher das voice over, das gar nichts verlieren kann... Aber immerhin sieht man mich als voice over. Ihr seht mich doch, oder nicht? Seht ihr mich? Mögt ihr mich? Könnt ihr euch vorstellen, mich noch öfter hier zu sehen? Bin ich euch sympathisch? Könnt ihr euch irgendwie mit mir identifizieren, auch wenn ich. Oder soll ich gehen...?

Im Hintergrund schafft es Anastasia währenddessen, Martin das Dirndl über den Kopf zu ziehen.

MIRA (WEITER) Und jetzt müsste gerade die überraschende Wende eingetreten sein. Wie durch ein Wunder müsste es die Hauptfigur jetzt geschafft haben, sich aus der Situation zu befreien. Den Antagonisten etwa ausschalten. Oder ihm eine andere Gesinnung verpassen. Oder eine Gehirnwäsche...

Ein Assistent bringt Mira einen Zettel mit Anweisungen, oder wahlweise spricht auch der Castomat diesen Text: “Münchner Schichten als Science Fiction” oder “Traditionelles Familienbild“. Mira dreht sich zu den beiden um.

MIRA (WEITER) Oder ein anderes Geschlecht Frau und Frau Müller bitte!!!

Alle drei setzen sich auf Stühle. Mira setzt sich den beiden, sichtlich nervösen, jetzt Asylsuchenden, gegenüber. Mira mustert die beiden eindringlich. Angespannte Stille.

MIRA Warum sind sie hier?

ANASTASIA Weil ähm... Weil wir alles verloren haben?

MIRA Ihren Wohnsitz, ihre Identität, ihren Verstand? Detaillierte Angaben. Und bitte.

ANASTASIA Wir sind Flüchtlinge. Wir kommen aus München.

MIRA Können sie mir dann bitte ihren Fluchtgrund nennen und über welche Länder sie eingereist sind. Verstehen sie mich? Do you understand?

ANASTASIA  (zu Martin)Verstehst du sie?  Soll ich   übersetzen?

Martin zuckt mit den Schultern. Schüttelt den Kopf. Nickt.

MARTIN Passt schon. Red einfach du. Danke.

ANASTASIA Meine Frau, Tscharlie Müller, war zuerst mein Mann, bis sie sich entschieden hat, meine Frau zu sein, das war 2026. Es fing damit an, dass er... Dass sie heimlich mit meinem Dirndl auf die Wiesn gegangen ist und sich dann spontan entschieden hat, es nicht mehr auszuziehen. Eigentlich nicht spontan, weil der Wunsch, ein Dirndl zu tragen, schon viel länger da war. Eigentlich das ganze Leben lang, wie ich jetzt erst weiß.                                                                                                

MIRA Na und? Warum hat er dann keins angezogen?

ANASTASIA Weil es nicht erlaubt ist. Weil jedes Dirndl personalisiert und entsprechend geschlechterspezifiziert ist. Und logescherweise dann auch nur von der gemeldeten Besitzerin getragen werden darf. Es ist wie eine zweite Haut, es leitet jede Körperregung und Gefühlsregung   in die zentrale Datenverarbeitungsstelle ins Allianz Stadion weiter, wo die Daten dann auch sofort interpretiert werden. Tscharlie wurde quasi von meiner Dirndlhaut verraten...

MIRA Können sie das bestätigen, Frau Müller? Martin nickt betroffen.

MIRA Bitte. Weiter.

ANASTASIA Ich habe dann die Lederhosn von... ihr getragen, was hätte ich sonst machen sollen. Es hat nur jeder ein Dirndl und mein Dirndl...

Beide weinen fast.

MARTIN Entschuldige bitte, dass ich.

ANASTASIA Kurz nach der Wiesn hat sich dann die Intoleranzstelle bei uns gemeldet... Weil sofort klar war, dass Oh Gott, ich kann gerade nicht weitersprechen.  Können wir vielleicht ein Bier haben? Ist das möglich? Gibt es sowas in Berlin? Bier?

Mira winkt dem Barmann.

MIRA Können sie den Müllers bitte zwei Bier bringen? Reden sie weiter.

ANASTASIA Wir wurden enteignet und entkleidet... Und mussten in die Kugel ziehen.... Das ist eine  Plexiglaskugel mitten auf dem Marienplatz vor dem Rathaus, die zweimal am Tag von Traditionalisten der Kavallerie über den  Platz gezogen wird. Vorbei an Schulklassen, die Spalier stehen. Zur Abschreckung.  Von diesem Durchschütteln verspricht man sich, ähnlich wie beim Schuhplattln, eine Stabilisierung der Gesinnung und der Heteronormativität.

MIRA Aber das hat bei ihnen nicht funktioniert.

Martin schüttelt den Kopf.

ANASTASIA Zwei Fluchthelfer haben uns zwei Schlepperdirndl mit falschen Identitäten besorgt und uns über die Grenze gebracht...Wir sind über BadenWürttemberg, Hessen, SachsenAnhalt nach Berlin eingereist. Mit einer als Taxidrohne getarnten Schlepperdrohne. Wir sind so froh, dass wir in Sicherheit sind. München ist keine sichere Herkunftsstadt mehr, seit Bayern … Auch wenn das offiziell nach außen hin in alle restnationalen, nationaldeutsch vereinigten Völkeransammlungen stadtnationaler Stadtgebilde kommunziert wird. Bitte schicken sie uns nicht wieder zurück. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.

MARTIN Bier!!!

Der Barmann bringt drei Bier. Alle trinken ihr Bier aus.  Schweigend. Das dauert.

Textauszüge aus dem Theatertext Die Castingshow

Premiere 7.11.2018 im Rahmen der Theaterserie Münchner Schichten