BRONSTEIN WARTET
Katrin Diehl
Szene 2
Frida öffnet die Tür einen Spalt, sieht, wer da steht, schließt die Tür sofort wieder, stemmt sich fest dagegen. Der von der anderen Seite will unbedingt herein. Leo beobachtet das mit starrem Blick, bleibt ruhig, tupft sich allerdings auch immer mal wieder den Schweiß von der Stirn.
Frida:
Ich kann da mitreden.
Ein Stück Stahl in sich hinein gerammt zu bekommen, ist..., ist..., ist... ein großer Akt.
Erinnernd. Langsam.
Es bohrt sich durchs Fleisch.
Einer gewissen Notwendigkeit gehorchend bohrt es sich durchs weiche Fleisch.
Nimmt auf Widerstände, einen weißen Knochen, schlängelnde Gedärme, eine zähe Gebärmutter... keinen Hauch von Rücksicht.
Was da passiert, ist pure Demonstration der eigenen Schuld, der eigenen Unschuld, der eigenen Unzulänglichkeit, der eigenen Genialität..., was weiß denn ich.
Ja, Trotzki, es hat was. Am Ende hat es was...
Pause. Frida sieht Leo plötzlich voller Ernst an. Lehnt sich weiterhin mit aller Kraft gegen die Tür. Von draußen hört man jetzt manchmal ein leises „Cou-Cou, Cou-Cou...“.
Frida:
Aber was danach kommt..., das ist die Hölle.
Danach, die Abwesenheit des Schmerzes..., das ist die Hölle. Das ist wirklich die Hölle.
Pause.
Alle glauben, dass ich große Schmerzen habe. Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen. Liegend, sitzend, stehend, gehend... Schmerzen.
Schreit.
Aber ich habe keine Schmerzen. Ich habe überhaupt keine Schmerzen. Ich habe von morgens bis abends keine Schmerzen. Kannst du dir das vorstellen? Ich ernähre mich von Morphinen, weil ich keine Schmerzen habe. Davon wird mir dann wenigstens übel und ich muss kotzen und es brennt mir im Hals und ich schütte einen Mezcal nach und noch einen und noch einen. Es brennt mir immer stärker im Hals und ich zünde mir eine kleine, dürre Zigarette an, stecke sie mir in den Rachen. Ich spucke Feuer, kippe statt Wasser eine nächsten Mezcal nach...
Leo:
Keine Schmerzen zu haben, ist für mich der einzige Gottesbeweis, den ich gelten lassen kann.
Frida verwirrt, irritiert..., gibt jetzt dem Druck der Tür endlich nach. André, der von draußen schon etwas mitgehört hat, schiebt sich sachte herein, schließt ebenso sachte hinter sich die Tür. Stellt sich neben Frida. André Breton hält in der einen Hand (wie ein braver Schuljunge) ein zusammengefaltetes Stück Papier. Beide, Frida und André, lehnen nebeneinander an der Wand, schauen erschrocken und in Erwartung auf Leo.
André:
Äh, Monsieur Trotzki... Haben Sie Gottesbeweis gesagt? Monsieur Trotzki. Äh... Monsieur Trotzki. Jetzt bitte nicht so etwas. Bitte jetzt keinen Gottesbeweis... Das geht jetzt nicht... Leise zu Frida, sieht sich dabei verunsichert um. Wir können davon ausgehen, dass wir unter uns sind, Frida? Keine..., wie heißen diese Dinger..., keine ... Würmer, äh, Käfer in den Wänden? Wieder laut in Richtung Leo Um Himmelswillen, bitte jetzt keinen Gottesbeweis, Monsieur Trotzki. Für das kleine bisschen Leben, das noch vor Ihnen liegt, sollten Sie doch ohne so etwas auskommen. Ich bitte Sie! Wird sich seiner Taktlosigkeit bewusst. Oh, Monsieur! Oh, entschuldigen Sie, Monsieur Trotzki. Das war sehr dumm von mir. Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, Monsieur. Entschuldigen Sie vielmals. Wie schrecklich von mir. Wie böse. Reckt die Faust in die Luft. Ruft laut. Vivat Trotzki! Vivat Trotzki! Vivat Trotzki! Auffordernder Blick zu Frida, sich an den Vivat-Rufen zu beteiligen.
Frida:
Breton, hören Sie auf der Stelle auf. Hören Sie damit auf, so herumzubrüllen. Man hört Sie ja bis nach Moskau... Geht - so schnell das eben mit ihrem hinkenden Bein möglich ist - zu Leo, wischt ihm mit seinem Taschentuch die Stirn. Richtet sich eindringlich an ihn.
Frida:
Das mit dem Gottesbeweis lässt du mal schön bleiben, Trotzki. Stell dir vor, ich erzähle Diego davon... Der setzt sich auf dich wie eine fette Kröte und wartet, bis du erstickt bist. Der macht das. Ich kenne diesen Mann. Der macht solche Dinge.
André:
Wo ist eigentlich Monsieur Diego?
Frida:
Das geht Sie nichts an, Breton. Das geht Sie überhaupt nichts an. Was wollen Sie überhaupt von ihm?
André:
Ich will ihm einen Witz erzählen. Und ich will faltet das Stück Papier sorgfältig auseinander, freut sich sehr..., dass er hier unterschreibt..., hier unten..., sehen Sie?...
Leo:
Auf die Welt kommt ein großer Haufen Zellen, deren Anordnung und Zusammenspiel so ist, dass man sie und ihre Arbeit nicht spürt, dass man sie von Anfang an so gut wie nicht spürt. Da ist kein Schmerz. Von Anfang an ist da kein Schmerz, was bedeutet, dass man sich aufs Denken verlegen kann.
Frida und André hören gespannt aber auch misstrauisch zu.
Leo:
Und das soll jedes Mal und immer wieder bei jedem Menschen und über Generationen hinweg ein Zufall sein? Jedes Mal? Einmal Zufall, zweimal Zufall, dreimal Zufall, viermal Zufall...? Jedes Mal Zufall?
Frida und André verwirrt.
Leo:
Die Wahrscheinlichkeit, dass das Leben von einem Schmerz, zumindest einer kleinen Unbequemlichkeit beherrscht wird, weil sich irgendeine, eine Einzige dieser Millionen Zelle ein wenig quer legt, ist um ein Mehrfaches größer als das Zustandekommen dieses akzeptablen Zustands, in dem wir einigermaßen bequem durchs Leben gehen. Es grenzt an ein...
André schnell und aufgeregt ablenkend, bestimmt:
Schluss jetzt, Schluss jetzt, Monsieur. Schluss jetzt mit solchen Dingen, Monsieur Trotzki... Wedelt wieder mit seinem Papier, tritt endlich in den Raum hinein Hier unten, hier unten, Monsieur Trotzki, sehen Sie mal. Hier unten müssen Sie unterschreiben. Hier Monsieur Diego und hier Sie, Monsieur Trotzki. Dann haben wir es geschafft. Und vergessen Sie diese dummen Zellen, Monsieur.
Leo:
Was haben wir dann geschafft, Herr Breton?
André:
Alles, Monsieur Trotzki. Alles. Tout!
Leo:
Ach, so.
Alles.
Das ist gut.
André:
Ja. Das ist gut. Das ist gut. Das ist sehr gut. Monsieur Trotzki. Hören Sie, Monsieur Trotzki. Hören Sie und sagen Sie mir, von wem das ist. Trägt würdevoll vor.
‚In einer revolutionären Gesellschaft muss es von Anfang an für das intellektuelle Schaffen ein anarchisches Regime geben.‘
Wiederholt noch einmal sehr langsam.
‚In einer revolutionären Gesellschaft muss es von Anfang an für das intellektuelle Schaffen ein anarchisches Regime geben.‘
Sagen Sie, Monsieur Trotzki! Von wem ist das? Wer hat das gesagt?
Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor, Monsieur Trotzki? Ist das nicht von dem großen...? Na, wie heißt er nochmal...? Dem großen...?
Leo:
Das ist von mir und jetzt halten Sie mich nicht für einen Idioten, Herr Breton.