DAS URTEIL
Katrin Diehl
Szene III
Wir sehen in die „gute Stube“ von Shmerel Fayerman. Das Zimmer zeigt, dass man sich hier allen Widrigkeiten zum Trotz sehr müht, irgendwie am alten Leben in Reichtum fest zu halten. Überall abgenutzte Accessoires einer eleganten Vergangenheit. Auch den Menschen ist der verzweifelte Kraftakt, den Abgrund zu ignorieren, anzumerken. Shmerel Fayerman sitzt am Esstisch. Ihm gegenüber seine Frau Tita. Man isst Suppe. Vornehm. In der Mitte des Tisches eine Porzellanterrine. Jan, der ein Bein ein wenig nachzieht, ist damit beschäftigt Shmerel Fayerman, während dieser isst, erst den einen, dann den anderen Schuh, den er ihm auf einem Hocker bereitstellt, mit etwas Werkzeug zu putzen.
Fayerman: Dann erzähl mir halt noch ein bisschen was über euren berühmten „Alten Doktor“ (= Janusz Korczak).
Jan: Ach, der. Der kann schon auch gehörig nerven.
Fayerman: Na, na. Immerhin sorgt er ja in diesen nicht ganz so einfachen Zeiten dafür, dass ihr alle etwas auf den Teller bekommt. Wie viele seid ihr eigentlich mittlerweile?
Jan: An die 200 und dazu kommen noch die Erwachsenen, die uns hüten wie ihre Seelen. Zählt auf... Da ist Esther, Stefania...
Fayerman: Ach, die alte Stefa...
Jan etwas altklug, belehrend: Na, na, na, das wird die Dame aber nicht so gerne hören, Herr Fayerman. Aber Sie haben schon recht, hübscher machen zitiert „diese nicht ganz so einfachen Zeiten“ sicher nicht. Das Fräulein Stefania hat jedenfalls alle Hände voll zu tun mit uns Pause, kichert mit uns... und mit dem Alten Doktor... Den Umzug vom Dom Sierot ins Ghetto..., den hat sie ganz allein bewerkstelligen müssen. Weil nämlich der werte Herr Janusz Korczak grad in dringlichen Sachen unterwegs war, kichert... unterwegs... kichert unterwegs nämlich ins Pawiak Gefängnis. Kichert weiter.
Tita besorgt aber auch ärgerlich/spitz: Was erzählst du? Alle haben wir davon gehört. Das ganze Ghetto hat davon mitbekommen. Und ganz schön arg hätt das am End ausgehen können. Und das hätten wir dann alle zu spüren bekommen, das ganze Ghetto hätt das zu spüren bekommen... Empört sich immer noch weiter.
Jan manchmal das, wovon er gerade berichtet, nachspielend: Der Alte Doktor ist doch tatsächlich zur Gestapo marschiert. Warum? Na, er wollt sich beschweren. Was denn da los sei, hat er den Gestapo-Beamten gefragt, dass er seinen vollen Kartoffelwagen nicht habe mit ins Ghetto nehmen dürfen. Der Gestapo-Beamte war völlig perplex, weil er so was noch nicht erlebt hatte, und weil er sich partout nicht vorstellen konnt, dass es jemand wagen würd, sich zu beschweren, und dann auch noch ein Jud... Das konnt der einfach nicht glauben... Als ihm dann der Alte Doktor ins Gesicht gebrüllt hat Jan geht zur Demonstration seines Berichts ganz nah ans Gesicht Fayermans, der sich ein wenig erschreckt ... , „und ob ich ein Jude bin, natürlich bin ich Jude, sehen Sie das vielleicht nicht, Herr Nichtjude, äh..., Herr Arier, das muss mich ja dann schon sehr wundern, Herr Arier, dass Sie das nicht sehen, dass Sie mir das nicht auf fünf Kilometer Entfernung ansehen, dass ich ein dreckiger Jude bin...“, Jan lässt von Fayerman ab als der Alte Doktor dem Gestapo-Mann also das Gesicht ganz vollgeschrien hatte, hat der ihn - 1,2,3 - in die Zelle stecken lassen.
Fayerman muss sich erst wieder ein wenig beruhigen, dann, nachdrücklich: Er hätt einfach endlich mal diese alte Militäruniform ausziehen müssen.
Jan: Der Alte Doktor? Wo er doch so stolz ist auf seine Zeit als polnischer Soldat ...
Fayerman winkt ab.
Jan putzt jetzt wieder weiter: Die weiße Armbinde mit dem Judenstern hätt er halt drantun sollen. Nach einer Weile. Nerven kann er schon, der Alte Doktor.
Fayerman: Sagen wir mal so: Er lässt nicht locker. Er lässt einfach nicht locker. Ärgerlich Ein Dickschädel ist er halt. Ein alter Dickschädel, den man nicht so leicht los bekommt...
Als wäre das ein Stichwort, sieht Tita misstrauisch zu ihrem Mann hin.
Tita: Shmerel? Shmerel? War er etwa heut schon wieder da? Sag, Shmerel. War er? Hat er heut schon wieder vor der Tür gestanden?
Fayerman: Ach was, Tita. Reg dich halt nicht gleich so auf. Nach einer Weile und etwas weicher. Er war heute noch nicht da. Titale, glaub‘ s mir halt. Pause. Und vielleicht kommt er ja auch gar nicht mehr. Pause. Denkt nach. Dann wieder ärgerlich. Aber irgendwann wird er schon wieder kommen, so wie ich den kenn ... Spätestens morgen steht der wieder unten und wirft mit Steinchen ans Fenster, wenn ich nicht gleich lauf. Mit seinem Sack auf dem Rücken wird er vor mir stehen und scharf ansehen wird er mich mit zugekniffenen Augen hinter der dicken Brill.
Tita legt - gespielt verzweifelt - ihren Löffel zur Seite. Jan registriert das interessiert.
Jan: Ach, so. Ach, so. Verstehe. Ich verstehe. Es tut den reichen Leut halt gar so weh, sich von ein paar Kartoffeln aus dem gut gefüllten Keller zu trennen...
Fayerman drohend die Hand hebend: Pass nur auf, was du sagst, du Lausebengel. Pass nur auf! Sonst...
Tita: Siehst! Das hat man jetzt davon, Shmerel...
Jan provozierend: Dann schmeißen’s mich doch raus, gnädige Frau. Und falls Sie das interessiert..., in unserem Waisenhaus ist es strengstens verboten, dass ein Erwachsener ein Kind schlägt. Kommt Fayerman ein bisschen näher, tut so, als wollte er ihm eine reinboxen... Dass ein Kind einem Erwachsenen eine gibt ist dagegen droht... auch verboten.
Fayerman jetzt wirklich auch ärgerlich: Hör endlich auf mit deinem dummen Geschwätz und putz mir meine Schuh. Das sag ich dir. Beruhigt sich wieder ein bisschen, sieht auf seine Schuhe... Die sehen ja immer noch aus, als wär‘ ich leibhaftig dabei gewesen bei den vierzig Jahren durch die Wüste.
Jan spuckt auf die Schuhe - Tita ekelt das ein bisschen. Jan poliert weiter. Während das Paar beherrscht weiter isst, singt Jan, rhythmisch zu seinen Polierbewegungen sein Schuh-Putz-Lied.
Lied 3: Schuh-Putz-Lied
Schein, Schein, Schein,
ist mehr als
sein, sein, sein.
Glänzende Schuh
und man lässt dich in Ruh,
Rouge auf den Wangen
und du darfst was verlangen.
Schein, Schein, Schein,
ist mehr als
sein, sein, sein.
Ein Hut auf dem Kopf
und du kommst nicht in Topf.
Den Knopf angenäht
ganz sicher, das zählt.
Schein, Schein, Schein,
ist mehr als
sein, sein, sein.
Die Füße gewaschen
und man lässt dir die Taschen.
Das Haar durchgekämmt
und man lässt dir dein Hemd.
Schein, Schein, Schein,
ist mehr als
sein, sein, sein.
Gesprochen:
Außer es wird morgen,
weil morgen,
morgen kommen neue ...
Jan legt sein Werkzeug kurz zur Seite. Spricht: Weil morgen ist ja eh alles wieder anders.
Jan steht schließlich auf: Fertig! Das ist ein Glanz jetzt, meine Herrschaften. Schauen Sie sich’s nur an, Mister Fayerman. Also, gnädige Frau, mit diesem Mann, vor allem mit dessen Schuhe können Sie sich jetzt wieder sehen lassen in der höheren Gesellschaft. So was soll ja nicht totzukriegen sein...
Fayerman winkt genervt ab: Was bekommst du?
Jan: Wie immer ein Zloty, der Herr, obwohl‘s zwei Schuhe waren, die ich geputzt hab. Aber Gerechtigkeit gibt’s ja schon lange nicht mehr auf dieser Welt...
Fayerman: Von wem du nur dieses lose Mundwerk geerbt hast...
Jan: Lässt sich leider nicht mehr feststellen, Herr Fayerman. Und ob ich’s weiter vererben will, muss ich mir auch noch schwer überlegen...
Fayerman sucht sichtlich..., guckt sich um...
Fayerman: Wo ist denn nur meine Geldbörse...? Ich hatt sie doch da hingelegt... Tita, hast du sie gesehen?
Tita sieht misstrauisch auf Jan: Nein, Shmerel. Shmerel, wirklich nicht. Liegt sie vielleicht auf dem Buffet ...? Also, ich weiß wirklich nicht ... Wenn du nur deine Gedanken besser zusammenhalten tätst, Shmerel...