DIE MACHT DES ÄQUATORS

Katrin Diehl

Personen: Wladimira, Estragona, Godot

Requisiten: Karton, Axt, Kreide, Wecker

 

Wenn Wladimira und Estragona miteinander im Dialog stehen,  sehen sie sich selten an, vielmehr soll ihr Blick meist geradeaus in die Klasse gerichtet sein.

 

Szene I

Wladimira stürzt gehetzt  ins Zimmer. Rennt nochmal zurück. Macht hinter sich die Tür zu.

Es ist halb und um halb war ausgemacht. Hier bin ich. Darf ich vorstellen? Verbeugt sich tief. Wladimira.

Steht einfach da.

Tut nichts.

Nichts tut sich.

Estragona stürzt gehetzt ins Zimmer. Rennt nochmal zurück. Macht die Tür hinter sich zu.

Halb was, meine Freundin?

Pause.

 „Halb" allein bedeutet nichts, meine Freundin. Höchstens dies oder das und überelegt ... alles, was dazwischen liegt.  „Halb" muss man irgendwo anknoten, festmachen, einhaken..., sonst flattert es lose im Wind. 

Wladimira öffnet den Mund, will etwas erwidern, Estragona kommt ihr zuvor.

Estragona:

Ich weiß schon, jetzt willst du sagen, „Halb von Ganz eben"..., und ich werde sagen, „gar nicht dumm, meine Freundin". Aber dann werde ich fragen: „Ganz von was?"

Wieder will Wladimira etwas sagen, wieder kommt sie nicht zu Wort.

Estragona rennt mal nach rechts, mal nach links...:

Hier ist ein halber Schnürsenkel eines Turnschuhs, dort ein halber Darm eines Wals.  Hier hast du einen halben Liter Kraftbrühe aus dem Hause Matschi, hier die Hälfte des Pazifischen Ozeans... plappert einfach weiter..., ein halber Dollar hier, ein halber Rubel dort... Einmal ist von einem halben Tag die Rede, dann von einem halben Jahrhundert... „Redet" sich eifrig pantomimisch mit großen Bewegungen in Fahrt. Wladimira hört verwirrt zu...

... da klopft/rumpelt es seltsam an der Tür. Immer wieder. Wladimira und Estragona ignorieren das zunächst, schauen sich endlich fragend an, schlagen sich dann gleichzeitig an die Stirn und rufen:

Godot!

Wladimira genervt, ungeduldig:

Darf ich dich bitten, meine Freundin, Godot zu öffnen?

Estragona sieht sich um:

Meinst du mich, meine Freundin? Oho! Ich wünsche sehr, bei meinem Namen genannt zu werden.  ES-TRA-GO-NA. ES-TRA-GO-NA. Ein Name, den man nicht an jeder Ecke zu hören bekommt. Du solltest wissen, dass nicht einmal  0,0001 Prozent der gerade existierenden Menschheit diesen Namen trägt. Das sind 0,0001 Hundertstel, das sind bei einer Weltbevölkerung von 7 Milliarden gerade mal 7 000..., was mir, ehrlich gesagt, immer noch sehr hochgegriffen scheint, weil ich das wunderliche  Gefühl nicht los werde, die einzige und einzigartigste Estragona der Welt zu sein... Sieht sich um..., ein bisschen besorgt... sucht... Oder... gibt es hier etwa noch eine Estragona? Zuschauer verneinen dies ..., Estragona ist unglaublich beruhigt... Ein schlagender Beweis..., dann doch noch einmal verunsichert, ängstlich..., zeigt geradezu bedrohlich auf die Lehrerin/den Lehrer ... Oder...,  Moment mal, wie heißen Sie eigentlich? Lehrerin/Lehrer nennt ihren/seinen Vornamen, worauf Estragona sich krümmt vor Lachen und den Namen immer wieder sagt..., bis sie sich endlich wieder beruhigt... Entschuldigen Sie..., tut mir wirklich leid, aber... kriegt wieder einen Lachanfall...

 Wladimira Estragona zur Vernunft rufend:

Estragona!

Estragona beruhigt sich nur langsam. Draußen rumpelt es wieder an der Tür.

Wladimira und Estragona erinnern sich:

Godot!

Wladimira:

Estragona, darf ich dich also bitten, Godot die Tür zu öffnen?

Estragona:

Du darfst, Wladimira.

Estragona tut nichts, bis Wladimira kapiert, dass sie sie bitten muss.

Wladimira:

Estragona, würdest du bitte Godot die Tür öffnen?

Estragona stürzt zur Tür, öffnet diese, Godot (der Karton), watschelt herein und stellt sich so hin, dass von links nach rechts Wladimira, Estragona, der Karton neben einander stehen. Die Tür steht noch offen.

Estragona:

Wladimira, darf ich dich bitten, die Tür zu schließen?

Wladimira:

Du darfst.

Estragona:

Wladimira, würdest du bitte die Tür schließen? Auf dem Gang riecht es nach ... rennt hin, um die Nase in den Gang zu stecken, kommt zurück  ... Nullkommanichts.

Wladimira rennt, schnuppert, macht die Tür zu.

Estragona kommt zum Anfang zurück:

„Halb" was also?

Wladimira braucht ein bisschen, bis sie kapiert und wieder den Anschluss findet.

Meine Freundin, ich bleibe dabei: Halb ist halb.

Estragona:

Halb vor oder halb nach?

Wladimira:

Auch das spielt keine Rolle.

Godot wankt, steht dann wieder still. Wladimira und Estragona beobachten das. Godot hat die Funktion eines „Falschmelders", was dem Zuschauer im Laufe des Stücks klar wird.

Estragona:

Godot ist nicht zufrieden.

Wladimira hebt an...:

Wenn ich ein Kirschminzebonbon ... halbiere, wird es dir vermutlich gleich sein, welche Hälfte davon ich dir geben werde.

Estragona:

Nein.

Wladimira:

Nein?

Estragona:

Ich will die größere.

Wladimira:

Aber meine Freundin! Hälften, die nicht gleich groß sind, sind keine Hälften. Wären die zwei Kirschminzebonbonhälften nicht gleich groß, hätte ich beim Teilen ... flüstert deutlich und geheimnisvoll gegen das erste große Gesetz der Brüche verstoßen.

Estragona:

... wofür man dich köpfen könnte  ...  Godot reicht blitzartig aus seinem Karton eine (täuschend echte) Axt.