NAKED BEAUTY
Theresa Seraphin und Helena Kontoudakis
Mononlog für einen nackten weißen Mann
Als ich zehn Jahre alt war nahm mich meine Großtante mit ins Ballett. Sie zeigten Romeo und Julia von Prokofjew. Gleich im ersten Akt geben die Capoulets einen Maskenball, auf den sich Romeo und sein Freund Mercutio als wilde Tiere verkleidet, einschleichen.
Sie benehmen sich dreist ohne Ende, dass es eine Frage der Zeit ist bis Tybalt sie erkennt und Romeo zum Duell herausfordert. Die Inszenierung Ende der Neunziger im Nürnberger Staatstheater war etwas moderner angelegt und so gehörte es zum guten Ton, dass Romeo und Mercutio, um es sich mit der verfeindeten Familie so richtig zu verscherzen, am Ende des Duells blank zogen.
Der Saal raunte und ich erinnere mich an die sanfte aber bestimmte Hand meiner Großtante, die mir den Blick auf die beiden hell leuchtenden Ärsche verwehrte.
Das hatte mit Romeo und Julia nichts zu tun. Die Capoulets und die Montagues waren anständige und gebildete Leute, so wie wir es waren. Niemand würde in einer Patrizierfamilie, ganz egal in welchem Jahrhundert, einfach seinen Hintern zeigen.
So meine Großtante.
Wir gehen ins Theater aber wir lieben den Körper nicht. Er muss geistig durchdrungen und geformt worden sein, dass wir seinen Anblick ertragen. Wir sind ihm so fern, dass er ein ganz anderer werden muss, dass wir uns darin erkennen.
Die gleiche Tante machte jedes Jahr eine Städtereise und schickt mir von überall her Postkarten mit den unterschiedlichsten Motiven.
Stellt sich in die Pose Laokoons.
Lieber Patrick, das ist Laokoon! Er hat den Trick der Griechen durchschaut und hätte Troja vor dem Untergang retten können. Doch Athene schickte zwei giftige Schlangen um ihn und seine Söhne zu töten. Hoffentlich wirst du nicht auch so ein Schlaumeier wie er, sondern hast ein langes, glückliches Leben!
Löst die Pose, begibt sich in die Pose des Fauns.
Das ist ein Faun, Symbol der Männlichkeit und Fruchtbarkeit. Schau wie ruhig er schläft. Fast Selbstbewusst. Ist das nicht beeindruckend?
Stellt sich in die Position der Figur von Da Vinci.
Das ist der vitruvianischer Mensch. Vom Scheitel bis zu den Zehen und von der einen Hand zur anderen umspannt sein Körper ein Quadrat. Steht er im X kannst du einen Kreis von seinem Bauchnabel aus ziehen und alle Enden seiner Gliedmaßen treffen. So perfekt ist er gebaut.
Löst die Pose
Einmal habe ich sie gefragt, ob die diese ganzen Penisse auf den Karten sie nicht störten.
Stören? Ach, was!, sagte sie da. Die sind doch alle aus Stein.
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Textauszüge aus dem Theatertext NAKED BEAUTY
Premiere am 24.10.2020 im Rahmen des WortSchau Festivals im Peppertheater Neuperlach