MÜNCHNER SCHICHTEN
Folge 6: Freizeit 81
Theresa Seraphin
chorisch mit allen Anwesenden zu sprechen
alle: Ich bin...
vorredner*in: ...das Kind meiner Eltern.
alle: Ich habe...
vorredner*in: ...gelernt zu verstehen und zu beurteilen, ohne noch zu wissen, wer ich bin.
alle: Ich hatte...
vorredner*in: einen Platz, bevor ich einen wählen konnte.
alle: Mein Platz lag...
vorredner*in: in der weißen linken bürgerlichen Mitte, die behauptete, nicht rassistisch zu sein.
alle: Mein Platz lag...
vorredner*in: am rechten, stummen Rand eines ost-deutschen Dorfes, dessen Grube geschlossen wurde und dessen Maschinen heute von der Vergangenheit weinen.
alle: Mein Platz lag...
vorredner*in: in den Bahnhofsvierteln der Großstädte, wo sich der Drogensüchtige und die Alewitin, die Spielerin und der Bäcker gute Nacht sagen. alle: Mein Platz lag... vorredner*in: auf den weichen Daunenkissen eines dritten Stockes, der für mich vorbehalten war. Und der mir gehören sollte, bevor ich da war, und man wusste, wer ich wurde. alle: Mein Platz lag... vorredner*in: in den Heimen und Sammelunterkünften dieser Stadt, die jedem Menschen feindlich gesinnt sind und die nicht wollen, dass man je zur Ruhe findet, bei sich oder bei anderen. alle: Mein Platz lag... vorredner*in: in den heteronormativen Räumen unserer Eltern, die angespannt auf unsere Brüste warteten und unser erstes Mal. Die nicht sehen wollten, dass wir nicht wir waren, und die nicht anders konnten, als uns uns abzusprechen.
alle: Wir sind...
vorredner*in: eine radikale Zelle.
alle: Wir sind...
vorredner*in: die übrigen 90 %.
alle: Wir sind...
vorredner*in: das letzte Hemd.
alle: Wir waren...
vorredner*in: schon da, bevor du ein Arschloch wurdest.
alle: Wir haben...
vorredner*in: die Bibel und das Kapital gelesen.
alle: Wir kennen...
vorredner*in: jede Sure.
alle: Wir sind...
vorredner*in: Batman nur in arm und weiblich.
alle: Wir haben...
vorredner*in: irgendwann verstanden, dass nicht wir der Feind sind füreinander...
alle: Sondern du!
vorredner*in: Du, der du in unseren Telefonbüchern und Pinnwänden sitzt! Der uns für unseren Lifestyle das richtige Shampoo verkaufen will und für unseren Hass das richtige Parfüm! Du, die du uns aussaugst mit Mieten und Arbeitsmoral! Du, dessen Neutralität nichts als Luxus ist! Wir haben keine Lust, deinen Reichtum von allen Seiten zu betrachten. Es reicht uns die Unterseite, um zu wissen, dass er uns feindlich gegenübersteht! Auch deine Höflichkeit ist Luxus! Du kannst uns die Tür aufhalten, weil sie dir gehört, Fotze! Gib uns die Tür und wir helfen dir beim Popeln! Auch deine Selbstkritik ist Luxus! Wo ist der Raum, in dem wir in Ruhe über alles nachdenken können? Unsere Zimmer, die von Abriss bedroht sind, in die der Wind zieht, in die der Livestream einen Untergang nach dem anderen schickt, diese Zimmer sind es nicht! Du, die du weißt, dass jede seines Glückes Schmied ist und seines Peches Schuld. Du, der du uns um den Hals legst, der du uns anschmiegsam machst und zärtlich. Wir sind dein viel zu dicker Pelzkragen, deine Siamkatze, dein Rassehund. Wir sind deine lebende Trophäe! Du, der du Probleme relativ siehst. Aber deine relativen Probleme kannst du dir in den Arsch stecken. Wir werden unser Mitgefühl nicht ausdehnen bis zu dir! Der Platz ist zu weit! Kein Zebrastreifen führt von unseren Herzen in deines.
alle: Aber damit ist jetzt Schluss!
vorredner*in: Wir durchbrechen der Kreislauf von Sterben, Arbeit und Nächstenhass. Wir lassen uns nicht mehr trennen durch deinen fucking Individualismus und deine fucking Einzigartigkeit. Komm! Komm! Ich lasse mich gehen…
alle: und ihr kommt mit!
Und weil du nur einen Arm hast aber fünf Beine, kletterst du nachts die Wände hoch und befestigst die Banner des Untergrunds an allen Kirchtürmen.
Wir nehmen unsere Depression in die Hand und schmeißen sie dir entgegen. Die Depression ist der größte aller Schwellkörper. Sie ist die angestaute Lust in sich gekehrt. Sie ist die Weihnachtsgans mit vergorenen Organen.
Und weil du zwar keinen Kopf hast, aber deine Lunge drei Flügel, treibst du die Rechten auf einen freien Platz und rufst dann die Hunde.
Sie bleibt hängen wie Honigmarmelade, wie Nektar, wie Zuckerwatte. Sie ist getränkt mit den schmutzigen Säften der Quengelware an der Supermarkt-Kasse und kommt jetzt zurück als geschleudertes Kaugummi, als bunter Spuckebatzen und infizierter Hustenanfall.
Und weil dein Arm einen Bart hat und deine Wirbelsäule Knoten trägt, weil du auglos und weitsichtig bist, stehst du aus dem Bett auf in den Krieg.
Meine manischen Eiterkügelchen schmeiße ich als Wurfgeschosse um mich um dich und du bleibst nicht stehen. Du gehst in die Knie wegen mir und meiner Eiterblasen, die ich über Jahre trainiert habe. Die ich gezüchtet und gereizt, gebläht und gespickt habe.
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Textauszüge aus dem Theatertext Freizeit 81’
Premiere 25.1.2019 im Rahmen der Theaterserie Münchner Schichten